Text zu Schöns Skulpturen
von Prof. Dr. Stephan Berg, Kunstmuseum Bonn, 1997
Das Ding steht auf einer Wiese, die zumindest auf dem Foto so unverschämt leuchtend grün aussieht, als wäre sie eingefärbt worden.
Mittendrin – auf einem offensichtlich erst vor kurzem gemähten Stück – hat sich ein rostbraunes, eisernes, buckliges Gebilde auf zwei Rädern niedergelassen. Das „Bromokül“, denn um ebendies handelt es sich laut Titel auf der Rückseite der Postkarte, ist ein Zwitter par excellence: ein karrenartiges Fahrzeug, dessen aus halbkugeln gebildete Oberfläche an den Echsenpanzer eines Urweltreptils ebenso erinnert, wie an eine Molekülzusammenballung, eine Traube oder einen Klumpen Froschlaich. Ganz offensichtlich verzahnen sich hier funktional-technische Momente, zu denen neben den Rädern auch ein schornsteinähnlicher Trichter am unteren auf dem Boden liegenden teil gehören, mit organoid aufgeladenen Aspekten. Aber – und darin liegt ein Gutteil der Irritation begründet, die diese Arbeit auslöst: Die einzelnen Komponenten lassen sich nicht feinsäuberlich trennen. Sie gehen ineinander über, beziehen sich aufeinander, bedingen sich in gewisser Weise sogar, obwohl sie inhaltlich sehr weit auseinander liegen.
Der bucklige, molekülartig aufgebaute Echsenpanzer „braucht“ die Räder als konträres Spannungselement, ebenso wie die Räder und der Schornstein über ihren konventionellen Funktionszusammenhang hinaus durch die über sie gezogene Hülle, eine irritierende formale Kraft erhalten. Das maschinengesteurte (Schornstein!) Bewegungselement erscheint abgebremst, zum Stillstand gebracht durch die klumpige Knubbeligkeit, die ich um die Räder breit macht, und dabei fast so erscheint wie eine der glibberigen proliferierenden Substanzen aus dem Weltraum, die in billigen Science Fiction Filmen so gerne ihr Unwesen treiben. Gleichzeitig wirken diese seltsamen Halbkugeln selbst von einer energetischen pulsierenden Kraft erfüllt, was vor allem damit zusammenhängt, daß diese Formation keine klare Identität besitzt, sondern wie in einem Verpuppungs- oder Entpuppungsprozess begriffen ist, am dessen Ende die Transformation in eine völlig neue Gestalt stehen könnte. Man meint hinter den Schalen der Halbkugeln förmlich die knisternden, knackenden Bewegungen zu spüren, mit denen unbekannte Wesen versuchen, sich ihren Weg nach draußen zu bahnen.
Transformation erscheint im Zusammenhang mit dieser Skulptur überhaupt als wesentlicher Begriff, denn er verweist auf das nicht statische, passagere Klima, das diese Arbeit auszeichnet. Dieser gußeiserne Zwitter ist sozusagen die Material gewordene Widerlegung jeder – auf einem einzigen Standpunkt beharrenden – Eindeutigkeit. Was wir sehen ist das Prinzip einer strukturellen Dualität und Ambiguität. Der Zusammenschluß zweier kontrsatierender Elemente befördert keine Entscheidung, sondern produziert das geisterhaft leuchtende Bild von etwas Drittem, das sich seinerseits widerrum in einem Prozess neuer Transformation und Identitätssuche befindet. Bei aller fluktuierenden Energie erscheint die Arbeit äußerlich gesehen nicht nur recht stabil, sondern auch ziemlich ausgeglichen. Die Fragilität ihrer inneren Verfassung schlägt sich nach außen eben nicht im Sinne einer flattrigen Inkonsistenz durch, sondern als geradezu behaglich austariertes Gleichgewicht der Kräfte und formalen Elemente.
Genau in diesem Rahmen zwischen Kontingenz und Brüchigkeit, bewegen sich nahezu alle Skulpturen Dietrich Schöns, dessen Werk von der Sehnsucht nach ständiger Erneuerung bewegt ist. Am Anfang des Weges stehen Holzskulpturen, wie der 1988 entstandene „Große Wagen“, der radartige Baumscheibenstücke in ein Holzgeviert einzwängt, und damit den Eindruck einer Gleichzeitigkeit von Bewegung und ewigem Stillstand hervorruft. Um der Emotionalität, die das Materiel Holz zwangsläufig transportiert, zu entgehen, wechselt Dietrich schön Anfang der 90er Jahre zu Eisenplastiken, die im Gußverfahren hergestellt werden. Es entstehen Bodenstücke, kompakte Formlinge, deren Gestalt, trotz des Gefühls einer vagen Vertrautheit, die sie beim Betrachter hervorrufen, etwas seltsam Schillerndes, Undefinierbares behalten. Wie Epitaphe einer untergegangenen, vergessenen Kultur präsentieren sich diese, trotz ihrer relativen Kleinheit monumental wirkenden Dingrätsel: Kompaktes, undurchdringliches Volumen in einem Formzusammenhang, der so weit reduziert wird, daß er nicht mehr gegenständlich, aber noch nicht abstrakt lesbar ist.
1993 wird diese konzentrirte Übung in introvertierter Materialverdichtung von Arbeiten abgelöst, die dem Innenraum der Skulpturen deutlich mehr Beachtung schenken. Vor uns erscheinen nun beispielsweise taucherglockenähnliche Formationedlichen Anschein zum Trotzn mit farbigen Glaseinsätzen unter verschraubten Bullaugen. Durch die meist blauen runden Fenster, schauen wir in ein unzugängliches Nichts. das innere ist ausgestellt, aber es erweist sich als schwarzes Loch, als bedeutungsfreies Vakuum, eingefärbt in die romantikerfarne blau, in dem das Nichts zum Projektionsraum für Sehnsuchtshorizonte werden kann und darf. Nur vordergründig liefert das skulpturale Äußere klarere Informationen. In Wirklichkeit ist es – seinem gegenständlichen Anschein zum Trotz – genauso leer, wie das Innere. Die gegenständlichen Assoziationen funktionieren wie eine Camouflage. Sie sind die Tarnmäntel über einem skulpturalen Zusammenhang, der auf nichts hinauswill, als darauf, eine skulpturale Verbindung zwischen dem eigentlich Verbindungslosen zu erzeugen, um daran das Gleiten der Bedeutungen zu illustrieren.
Denn so ist das immer bei den Arbeiten von Schön: Der solide, verlässliche Eindruck, den sie auf den ersten Blick vermitteln, löst sich auf und macht einem Eindruck Platz, wie er beim Auftauchen einer Fata Morgana entsteht: Die gestochen scharfe Klarheit, die die Dinge von Weitem ausstrahlen, verschwimmt beim Näherkommen, bis am Ende alles, was man zu sehen meinte verschwunden ist.
Auch deswegen spielt das Rad eine so große Rolle in diesem Werk: Weil das, was gesagt, gezeigt und gemacht werden will, sich selbst permanent dreht und bewegt und schon wieder ganz woanders ist, wenn man sich ihm nähert, um es zu fixieren. Also gibt es nun neben einer seltsamen turbinenartigenForm, und einer eisernen Puderdose, in der sich die dunkelblaue erleuchtete Rosette von Notre Dame befindet, einen Karren, auf dem ironisch und ziemlich böse Dutzende von golden schimmernden Tischglocken den rotierend Überfluß der Luxusgesellschaft geißeln, und eine Schubkarre, die ihren eignen Bewegungsdrang durch eine Menge aufgeladener Scheiben gleichzeitig kommentiert und potenziertund überdies noch auf Jean-Francois Millets (1814 – 1875) „Abendgebet“ anspielt.
Eben jetzt erleben wir Schöns Skulpturen bei einer neuen Metamorphose, mit ungewissem Ausgang, denn es handelt sich um eine Arbeit, die noch in ihren Anfängen steckt: Styroporformen, in bewährter Verschränkung widersprüchlicher Fast-Gegenständlichkeit, aber diesmal mit Stoffbahnen beklebt – ja bunter desto besser. der Traum wäre: eine dieser bereits gefundenen Formen mit ganz verschiedenen Anzügen auszustatten, die je nach Anlass angezogen werden können. Schöner kann man die Chamäleonhaftigkeit dieser Skulpturen eigetlich nicht auf den Punkt bringen. Und das bedeutet natürlich auch: Die Suche geht weiter.
Freiburg, im Februar 1997
aus: Berg, Stephan: Das Gleiten der Bedeutungen, in: Dietrich Schön – Skulpturen und Zeichnungen, Kat. Kunstverein Kirchzarten u.a., Freiburg, 1997. (o.p.)